Vom Ende der Täuschung
Wer im Internet Themen wie ‚Enttäuschung‘ oder ‚Trennung‘ recherchiert, findet vor allem eins: Berichte von Menschen, die verlassen, betrogen oder hintergangen wurden. Die Bösen sind dabei immer die anderen. Versteht sich von selbst. Oder?
Es war ein Klick. Ein Klick, der alles beendete. Fast zehn Jahre kannten wir uns. Zehn Jahre. Das war ein Drittel meines Lebens. „Wer es mehr als sieben Jahre miteinander aushält, bleibt für immer befreundet“. So heißt es. Wir hatten es fast zehn Jahre geschafft, darauf war ich stolz.
Der erste Tag dieser zehn Jahre war ein ganz besonderer. Ich war damals 30 Stunden nach Australien, ans andere Ende der Welt, geflogen. Für ein Auslandssemester, das mein Leben verändern sollte. Da stand ich also, völlig erschöpft, aber nicht erschöpft genug, um nicht aufgeregt zu sein. Ich stand vor einem weißen, unscheinbaren Haus, im Industriegebiet eines Melbourner Vororts, aber mit dem schönsten Zitronenbaum, den ich je gesehen hatte.
Keine Männer?
„The guys will be there when you arrive”, hatte mein neuer Vermieter mir vor der Ankunft geschrieben. “The guys”, dachte ich, “was für Typen das wohl sind?“. Nadine* öffnete die Tür. Kein Mann! Stattdessen eine große, schlanke Frau mit einem herzlich bestimmten Lächeln. Nadine. Ich war perplex, stammelte etwas zur Begrüßung. Sie antwortete auf Luxemburgisch. Ich mochte sie. Im Wohnzimmer warteten Frauke*, Nadines luxemburgische Freundin und Karla* aus der Pfalz. „Vier Frauen. Keine Männer. Das wird heftig!“, dachte ich.
Die Mädels begrüßten mich herzlich. Wir hatten uns sofort ganz viel zu erzählen und verbrachten die ersten Tage fast ununterbrochen zusammen. Was für ein Abenteuer das alles war. Eine richtige Großstadt! Am anderen Ende der Welt. Mit freundlichen Menschen. Und alles auf Englisch. Alles war anders. Alles war neu. Nie wieder sollte ich so aufgeregt sein wie in den ersten Tagen dieses Auslandssemesters.
Sunshine hieß der Stadtteil, in dem wir lebten. Die Sunshine Gang, das waren wir. Sonnenschein war kein ganz passender Name für einen so dubiosen, weitläufigen Stadtteil, der nichts mit dem Melbourner Charme gemein hatte. Außer uns. Bei uns war es gesellig, gemütlich, vertraut. Ein Zuhause. Und es gab regelmäßig Zitronentarte. Wir verstanden uns hervorragend. Wir stritten nie. Wir ließen uns unsere Freiräume, äußerten Bedürfnisse, stellten uns auf die Bedürfnisse der anderen ein. Mal unternahmen wir etwas gemeinsam und dann wieder allein oder mit anderen Freunden. Wir lernten Australier kennen, gingen tanzen, auf Partys, bummelten über Märkte und verreisten zusammen. So lange hatte ich mich nach dieser Art des Zusammenlebens gesehnt. Die drei waren meine Familie.
Das Paradies zurücklassen
Sieben Monate später. Es war ein brütend heißer Tag, als ich in das Flugzeug stieg, das mich zurück ins kalte, deprimierende Deutschland bringen sollte. Ich war die letzte von uns, die abreiste. Meine Güte, was war mein Herz schwer. Die Tränen waren kaum zurückzuhalten, als ich aus dem Fenster sah und „unsere“ Lieder hörte, Nie war es mir so schwergefallen, etwas loszulassen. Doch es gab kein Zurück.
Wir trafen uns relativ schnell wieder. Ich war nach dem Auslandssemester nach Berlin gezogen. Die anderen besuchten mich. Wir trafen uns noch unzählige Male. Ich fuhr nach Luxemburg, Freiburg oder Kaiserslautern, die anderen besuchten mich in Berlin, Frankfurt, München, Düsseldorf. Immer wieder war da dieses vertraute Gefühl. Aber da war auch etwas anderes: Verlorensein. Und Trauer.
Heute weiß ich: Ich hätte mich der Trauer und Einsamkeit stellen sollen. Stattdessen verdrängte ich alles Unangenehme. Es sollte so schön sein, wie es früher war, als wir im Paradies lebten. Als alles einfach war. Als wir Zeit hatten und so weit weg waren von den Problemen des Alltags. Mein Leben war lange nicht mehr so. Schon bei unserem ersten Treffen nach Australien spürte ich einen dunklen Schleier auf meiner Seele. Das Leben der anderen ging weiter. Sie hatten alle Beziehungen, hatten ihr Studium beendet, die ersten Jobs begonnen. Ich dagegen reiste von einer Stadt in die andere, verdiente nicht genug zum Leben, hatte keinen festen Job in Aussicht und der Mann, den ich vor Australien zurückgelassen hatte, hatte mittlerweile mit einer anderen Frau ein Kind. Ich fühlte mich verloren. Und konnte nicht wirklich darüber reden.
Der Brief, der niemals kam
Zwischen den fünf Jobs, die ich hatte, den unzähligen Dates und den Versuchen, eine Zukunft aufzubauen, brach ich mit Burnout zusammen. Ich ging ins Krankenhaus für ein paar Monate. Keine Karte, kein Anruf, kein Besuch von den Mädels. Nur eine Whatsapp-Nachricht: „Ich hoffe, bei dir geht’s bald wieder bergauf!“. Ja, das hoffte ich auch. Leichter wäre es gegangen, wären sie dagewesen.
Ich fühlte mich nicht gesehen. Hatte mich aber auch nicht wirklich gezeigt. Das war nicht meine Stärke. Ich konnte über die Dinge reden. Aber an meinen Gefühlen ließ ich so gut wie niemanden teilhaben. Ob sie mit meinen Gefühlen etwas hätten anfangen können? Wahrscheinlich eh nicht. „Du kannst dich jederzeit melden“, schrieb Karla schließlich. Ich meldete mich. Sie war nicht zu erreichen. Ich meldete mich wieder. Sie würde mir einen Brief schreiben, antwortete sie. Einen Brief bekam ich nie.
Dann noch eine Whatsapp. „Ich drücke dir die Daumen für alles, Angie!“. Ich wusste, dass es lieb gemeint war. Aber ich wusste auch, dass ich schon lange die Verbindung zu ihnen verloren hatte. Dass es nie wieder so werden würde, wie es war. Dass jeder sein eigenes Leben lebt. Dass ich ihnen nicht so wichtig war wie sie mir. Dass sie Familien hatten, die ich so nie hatte. Dass sie ein Leben in Reichtum führten und ihnen meine Sorgen fremd waren. Dass sie mich nicht sehen konnten.
Das Ende der Täuschung
In diesem Augenblick wurde mir klar, dass Enttäuschung eben vor allem eins ist: eine Ent-Täuschung. Wie hatte ich mich getäuscht die letzten Jahre. Wie sehr hatte ich mir ein Zuhause und eine Familie gewünscht und nicht gesehen, dass ich dieses Gefühl zunächst in mir hätte aufbauen müssen und dass mein Leben zu viel war für sie. Wie sehr hatte ich an unseren gemeinsamen Erfahrungen gehangen, die ich einfach nicht loslassen konnte.
Sie sind und waren keine schlechten Menschen. Sie waren nur eben nicht das, was ich mir so sehr gewünscht hatte. Also ging ich. Einfach so. Ich verließ unsere Whatsapp-Gruppe. Mit einem Klick. Mit diesem Moment war alles vorbei. Ich erklärte mich nicht mehr. Dafür war es zu spät.
Ob ich es heute anders machen würde? Ja. Ich würde mich meinen Ängsten stellen. Würde versuchen, meine Gefühle zu zeigen. Würde mich aber auch schützen. Und mich um mich selbst kümmern. Und ich würde ihnen sagen, wie sehr ich sie mag. Denn das tue ich noch heute. Wie damals, als ich sie das erste Mal sah. In dem weißen Haus mit Zitronenbaum. In Sunshine.
*Namen wurden geändert
Photocredit: Brienne Hong / Unsplash