Der Schatten der Hochsensibilität
Du bist hochsensibel? Das ist großartig! Hochsensibilität ist ein Geschenk. Wenn man mit ihr umgehen kann. Sonst kann sie auch mal wirklich anstrengend sein…
„Alle natürlichen Dinge haben zwei Seiten“ hat schon der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung gesagt. Erst wenn wir die lichte und die dunkle Seite einer Sache kennen, können wir in unsere Mitte kommen. So verhält es sich auch mit Hochsensibilität. Denn so sehr sie uns auch helfen kann, so schwierig kann sie im Alltag sein, wenn wir nicht mit ihr umgehen können. Im Folgenden erfährst du, in welchen Bereichen es durchaus mal herausfordernd sein kann, hochsensibel zu sein.
(Anmerkung: Natürlich ticken nicht alle Hochsensiblen gleich. Daher trifft auch nicht alles auf jede:n zu!)
Hellsichtigkeit/Hellfühligkeit: Du spürst oft intuitiv, wie es anderen geht? Merkst sofort, dass schlechte Stimmung herrscht, wenn du in einen Raum mit vielen Menschen kommst? Kannst vielleicht sogar Energien spüren in Hotelzimmern, Büros, Tagungsräumen etc. selbst wenn niemand anwesend ist? Hast manchmal das Gefühl, Gedanken lesen zu können?
Dann bist du vielleicht nicht nur hochsensibel, sondern auch hellsichtig oder hellfühlig. Wenn du deine Fähigkeit diesbezüglich nicht richtig einschätzen kannst oder anderen glaubst, wenn sie diese für albern halten, kann es sehr unbequem werden.
Tipp: Lerne dich und deine Fähigkeiten wirklich gut kennen. Wenn du weißt, wie du tickst und auf welche Wahrnehmungen du dich verlassen kannst, wird es einfacher, diese anderen gegenüber zu erklären oder bei Skepsis zu verteidigen (falls du das möchtest!). Trotz aller Selbstkenntnis und Erklärungen kann es natürlich immer wieder passieren, dass andere deine Wahrnehmung in Frage stellen. Vielleicht hilft es dir zu wissen, dass du nicht die einzige Person bist, die diese Fähigkeiten hat und dass sie ein wunderbares Geschenk sind?
Du weißt im Voraus, wie etwas ausgehen wird?
Präkognition: Du hast oft das Gefühl, schon zu wissen, wie etwas ausgeht? Dass etwas nicht funktionieren wird? Bestimmte Paare in deinem Freundeskreis nicht zusammenbleiben werden? Du bestimmte Menschen nicht mehr wiedersehen wirst? Ein Unglück passieren wird?
Mit Hochsensibilität gehen auch oft präkognitive Fähigkeiten einher. Das bedeutet, dass man etwas weiß bzw. spüren kann, bevor es passiert. Im Englischen gibt es auch den Begriff „presentient“, was mit „vor-fühlend“ übersetzt werden kann und beschreibt, dass man etwas nicht unbedingt im Voraus weiß, aber spüren kann, als würde einem Ereignis eine energetische Welle vorausgehen, die einen erfasst, ohne dass im Außen etwas auf das Ereignis hinweist.
Tipp: Auch hier kann es helfen, deine Fähigkeiten sehr bewusst wahrzunehmen und immer wieder zu überprüfen. Wie fühlt sich eine Vorahnung für dich an? Was nimmst du genau wahr? Wie hat sie sich bewahrheitet? Was nimmst du wahr, wenn du selbst von Angst oder Unruhe gesteuert bist? Wie gehst du mit deinen Vorahnungen um? Es kann helfen, sich Menschen zu suchen, die ähnlich ticken und dich verstehen.
Abgrenzung: Gesunde Grenzen setzen zu können, ist für jeden Menschen wichtig! Da hochsensible Personen aber in der Regel mehr wahrnehmen und mehr spüren, ist es für sie noch nicht wichtiger, eigene Grenzen bewusst wahrzunehmen und zu schützen. Besonders schwierig ist dies für sogenannte „highly sensitive high sensation seekers“, Hochsensible, die ein großes Bedürfnis nach intensiven (Sinnes-) Erfahrungen haben. Sie sind in der Regel extrovertiert oder ambivertiert, brauchen viel Abwechslung im Leben und sammeln Wissen und Erfahrung in unterschiedlichen Situationen und Positionen. Anders als introvierte, zurückhaltende Hochsensible leben sie in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Sensibilität und Aufregung und Grenzerfahrung.
Tipp: Egal, ob du eher introviert bist und Ruhe bevorzugst oder ständige Veränderung liebst: Frage dich immer wieder, wie es dir gerade geht. „Wie fühle ich mich?“, „Was spüre ich?“, „Was brauche ich jetzt gerade und wie kann ich es mir geben?“ sind Fragen, die dir helfen können und besonders kraftvoll sind, wenn du sie in deinen Alltag integrierst.
Auch kannst du dir immer wieder sagen, dass du das Recht und die Pflicht hast, dich selbst zu schützen. Wenn du erwachsen bist, ist es allein deine Aufgabe, die Wahrung deiner Grenzen sicher zu stellen! Wenn dein Gegenüber nicht damit klarkommt, dass du dich schützt, versuche das Problem bei der anderen Person zu lassen. Vielleicht hilft es dir auch, dir zu sagen, dass die anderen von dir lernen können, wie man richtig Grenzen setzt?
Du hast tausend Interessen und kannst dich nicht entscheiden?
Scanner-Persönlichkeit: Du hast sehr viele Interessen, hast oft deinen Job oder deine Hobbys gewechselt, liebst es, neue Dinge zu lernen und neue Erfahrungen zu machen? Dann bist du vielleicht eine sogenannte Scanner-Persönlichkeit. Sie sind oft hochsensibel und hochbegabt, kreativ, neugierig – und überfordert.
Tipp: Wenn du auch Tausend Interessen hast und am liebsten alles Mögliche lernen und erleben möchtest, könnten dir verschiedene Coachingtechniken oder ein spezielles Scanner-Coaching helfen. Gute Tipps findest du zum Beispiel in den Büchern von Barbara Sher. Sie können dir dabei helfen, herauszufinden, was du wirklich willst und Prioritäten zu setzen.
Psychosomatik: Psychosomatik beschreibt das Zusammenspiel aus Psyche und Soma (Körper). Auch wenn Hochsensibilität keine Krankheit, also auch keine Diagnose ist, kann sie Einfluss auf körperliche Prozesse und damit das Wohlbefinden haben. So kann es sein, dass hochsensible Personen schneller Migräne bekommen, weil sie sich eher gestresst fühlen; dass ihre Verdauung gestört ist, weil sie „mehr zu verdauen“ haben oder sie unter Hautproblemen leiden, weil sie „sehr dünnhäutig“ sind. Dies sind natürlich nur wenige Beispiele. Das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele ist komplex und leider gibt es immer noch viel zu wenig Ärzt:innen, die psychosomatisch ausgebildet sind, geschweige denn sich mit Hochsensibilität auskennen.
Tipp: In der Regel schadet es nicht, gesundheitliche Probleme somatisch abklären zu lassen. Zusätzlich kannst du dich aber auch fragen, was die psychische Komponente deines Leidens ausmachen kann. Was schlägt dir auf den Magen? Was möchtest du nicht sehen? Was kannst du nur schwer verdauen? Wo bist du zu dünnhäutig? Was möchtest du nicht hören? Und und und? Häufig hilft es auch, darüber zu reden. Mit Freund:innen, Coach:innen, Therapeut:innen oder anderen.
Kränkung: Laut des Psychiaters und Autors Reinhard Haller fühlen sich zwei Personengruppen besonders schnell gekränkt: Narzisst:innen und Hochsensible! Hier muss nicht erwähnt werden, dass der Umgang mit Kränkungen bei beiden Gruppen grundverschieden ist, aber die Kränkbarkeit ist ähnlich.
Tipp: Das Thema ist sehr komplex und reicht vom konkreten Umgang mit der Kränkung über Grenzsetzung bis zur Stärkung des Selbstwertgefühls. Einige Infos findest du in meinem Artikel über das Buch „Die Macht der Kränkung“ (Link). Ein weiterer Artikel hier auf meinen Blog zum Thema „Umgang mit Kränkungen“ wird folgen.
Du verträgst bestimmte Substanzen nicht gut?
Substanzempfindlichkeit: Häufig geht Hochsensibilität damit einher, dass unterschiedliche Substanzen nicht so gut vertragen werden bzw. eine höhere Sensitivität ihnen gegenüber wahrgenommen werden kann. Das kann bedeuten, dass du bestimmte Nahrungsmittel nicht verträgst, dass schon sehr geringe Dosen von Medikamenten wirken, dass du auf Schadstoffe intensiver reagierst oder Duftstoffe, Materialien, Putzmittel und anderes als unangenehm empfindest.
Tipp: Auch hier hilft Achtsamkeit. Versuche wahrzunehmen, wie du dich mit etwas – einem Nahrungsmittel, einem Duft, einem Stoff etc. – fühlst. Einiges kannst du über eine gute Selbstwahrnehmung herausfinden, anderes kann durch Hilfsmittel wie Pendel, Kinesiologie, Bioresonanzverfahren ausgetestet werden. Manchmal hilft auch ein einfaches Weglassen, um herauszufinden, was dir gut tut.
Gewaltdarstellungen: Kannst du Horrorfilme gut ertragen? Ziehen dich Nachrichten emotional runter? Empfindest du bestimmte Bilder als unangenehm? Dann bist du nicht allein! Viele Hochsensible können nur schwer ertragen, das Leid anderer zu spüren und zu sehen. Gefallen daran zu finden, sich nichtfiktive Gewalt (in Form von Nachrichten) oder fiktive Gewalt (in Form von Horrorfilmen, Thrillern etc.) anzuschauen, können sie nicht nachvollziehen. Aber auch das betrifft natürlich nicht jede hochsensible Person.
Tipp: Achte auch hier darauf, was dir gut tut und vermeide so gut es geht, was dir nicht gut tut. Wenn dein Umfeld darauf Wert legt, kannst du versuchen, dich zu erklären oder auch hier Alternativen zu finden. Wenn dein Partner zum Beispiel jeden Abend Nachrichten schauen möchte, könntest du in der Zeit einen Spaziergang machen. Wenn deine Freundinnen sich mit dir einen Horrorfilm anschauen möchten, könntest du vorschlagen, etwas anderes zu unternehmen oder einen Film zu finden, der euch allen gefällt.
Arbeitskontext: Mal ehrlich: Wie gut verträgst du Stress? Und was stresst dich? Zeitdruck? Büros mit vielen Menschen? Lautstärke? Ärger der Kolleg:innen? Mangelnde Wertschätzung? Wie oft fühlst du dich unwohl bei der Arbeit?
Zugegeben, das Thema Arbeit ist ein schwieriges. Nicht nur Hochsensible leiden unter Zeitdruck, mangelnder Wertschätzung, zwischenmenschlichen Konflikten oder problematischen Rahmenbedingungen. Doch auch hier kann man sagen, dass Hochsensible vieles intensiver wahrnehmen. Hinzu kommt, dass sie Probleme häufiger auf sich beziehen, sich verantwortlich fühlen (weil sie mehr spüren) und sich oft nicht gut abgrenzen können. Umso wichtiger ist es, sich ausführlich damit auseinander zu setzen, welcher Arbeitskontext einem gut tut.
Tipp: Die gute Nachricht: Es gibt viel Hilfe, um herauszufinden, welche Arbeit und welche Arbeitsbedingungen einen glücklich machen können. Ob Persönlichkeitstest, Jobcoachings, Gespräche, Online-Artikel oder Bücher: Da sich unzählige Menschen damit beschäftigen, welche Arbeit uns glücklich macht, gibt es auch viel Materialien zum Thema. Sich mit den eigenen Stärken, Schwächen, Werten, Wünschen, Träumen, Interessen und Visionen zu befassen, kann sehr hilfreich sein.
Für Hochsensible ist hier besonders wichtig, die eigenen Grenzen realistisch zu erfassen: „Möchte ich wirklich um sechs Uhr aufstehen?“, „Kann ich wirklich in einem Großraumbüro arbeiten?“, „Schaffe ich es wirklich, fünf Tage die Woche zu arbeiten?“ sind nur ein paar Fragen, wie sich hochsensible Menschen stellen können. Empfehlenswert ist auch das Buch „Die Berufung für Hochsensible“ von Luca Rohleder. Rohleder beschreibt sehr verständlich, welche Probleme Hochsensible im Arbeitskontext häufig haben.