Loslassen heißt zulassen
„Das Kuriose am Menschen ist, dass er auch er auch leidet, wenn er großes Glück empfunden hat.“ Das sagte mir mein Buddhismusdozent an der Uni im ersten Semester. Lange Zeit dachte ich: „Nö, wenn ich glücklich bin, bin ich glücklich. Da leide ich doch nicht!“ Doch heute, fast 20 Jahre später, weiß ich, was er meinte.
So oft halten wir fest an dem, was uns glücklich macht. Wir wollen das Glück für immer bewahren und es am besten nie wieder loslassen.
Und doch wissen wir, dass das Leben so nicht funktioniert. Dass alles vergeht, das Angenehme wie auch das Unangenehme. „This too shall pass“, wie man im Englischen so schön sagt, wenn es mal nicht so rosig läuft. „Auch das vergeht.“ Nichts bleibt. Leid entsteht genau dann, wenn wir genau das nicht wahrhaben wollen. Wenn wir festhalten wollen. So konnte ich jahrelang keine alten Bilder anschauen. Vor allem nicht die aus Australien.
Als ich nach meinem Auslandsaufenthalt im Flieger von Melbourne nach Frankfurt saß, war ich so sentimental wie noch nie in meinem Leben. Ich schwor mir, zurückzukehren nach Australien, nach Hause. Und es klappte. Zwei Jahre später flog ich zum Arbeiten nach Sydney. Dann kam der große Abschied und ein großes Loch, in das ich fiel. Als ich im eisigen Deutschland am Frankfurter Flughafen von Geschäftsreisenden angepöbelt wurde, wurde mir plötzlich klar, wie verloren ich mich fühlte.
Die bisher schönste Zeit in meinem Leben sollte nun wirklich und endgültig vorbei sein. Doch ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Statt wirklich zu fühlen, wie schmerzhaft der Abschied war, verdrängte ich meine Gefühle. Und merkte über 10 Jahre lang doch immer wieder, wie unglaublich schmerzhaft es für mich war, loslassen zu müssen.
Loslassen bedeutet in erster Linie daseinlassen. Alles zuzulassen, was gesehen werden will. Für mich hieß das: Erkennen, dass die alten Freundschaften sich auseinandergelebt hatten, dass wir uns alle weiterentwickelt hatten, dass nicht alles für immer bestehen sollte, dass nichts zurückzuholen ist und die Erinnerung dennoch für immer bleibt.
Heute kann ich mir die alten Bilder wieder anschauen. Manchmal bin ich noch traurig, dass ich die schönen Momente nicht für immer festhalten konnte. Aber meine Gefühle überrollen mich nicht mehr. Neben der Traurigkeit hat Dankbarkeit Platz gefunden. Dankbarkeit für die wunderschönen Eindrücke. Für die besten Freunde, die ich haben konnte. Für die all die Reise-Buddys. Für großartige Kollegen. Für die tollsten Parties, Hochzeiten, Vorlesungen, Reisen, Restaurantbesuche und Flohmarktnachmittage. Für Wale, Delfine, Känguruhs, Wombats, Koalas und Papageien. Für Liebe und Herzschmerz. Für überraschende Begegnungen und sentimentale Abschiede. Fürs Surfen und Wandern. Für traumhafte Roadtrips. Und für ganz viel Zeit am Meer.
Heute weiß ich: Es darf alles da sein. Freude, Schmerz, Dankbarkeit,Trauer… Auch gleichzeitig. Das ist Leben. Alles andere wäre auch langweilig…