So lernst du aus Konflikten – Buchtipp: Die Macht der Kränkung
Selten habe ich ein Buch öfter aus dem Regal genommen, durchgeblättert und wieder ins Regal zurückgestellt als dieses. „Die Macht der Kränkung“ sprach nicht gerade für eine heiter-beschwingte Lektüre. Ich erwartete Schlimmstes!
Als ich mich dann doch Jahre nach dem Erwerb dieses Buches entschied, zumindest mal in das entsprechende Hörbuch reinzuhören, war ich sofort begeistert. Ich war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zu einem Seminar in Norddeutschland und hatte sieben Stunden Fahrt vor mir. Welch eine Erleichterung es war, ein so großartiges Hörbuch dabei zu haben! Schon nach wenigen Minuten des Hörens war ich verliebt in den väterlich-liebevoll klingenden Sprecher und die klaren, anspruchsvollen, aber dennoch leicht verständlichen Formulierungen. Ich wusste, ich könnte viel lernen von diesem Werk und seinem Autoren, dem österreichischen Psychiater, Gerichtsgutachter und Psychotherapeuten Reinhard Haller.
Kränkungen sind unvermeidbar
Haller ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet, vor allem, wenn es um Kriminaldelikte und Suchterkrankungen geht. Das Thema Kränkung habe sich dementsprechend wie ein roter Faden durch seine Berufslaufbahn gezogen, berichtet er. Kränkung, das sei etwas, das uns unser Leben lang betreffe. Keiner von uns könne sie umschiffen. Schon allein deswegen nicht, weil niemand zu hundertprozentiger Sicherheit sagen könne, wie sein Gegenüber Gesagtes auffasst und was ihn verletzen könnte. Eine beruhigende Tatsache, wie ich finde.
Und dennoch: Laut Haller nehmen Kränkungen und im Zusammenhang damit Beziehungsdelikte – das heißt Straftaten, die auf zwischenmenschlichen Konflikten basieren – immer mehr zu. Als Grund beschreibt er, dass unsere Gesellschaft in ihrer Gesamtheit immer narzisstischer orientiert sei. Zwei Menschentypen seien laut Haller immer häufiger in westlichen Gesellschaften vertreten: die Hochsensiblen und die Narzissten.
Stark kränkbare Charaktere
Eine gefährliche Kombination, da hochsensible Menschen dem Experten zufolge aufgrund ihrer Empfindsamkeit sehr kränkbar sind und Personen mit starken narzisstischen Tendenzen nicht nur selbst stark auf Kränkungen reagieren, sondern sich auch stark kränkend, also verletzend, verhalten.
Auf dieser Dynamik baut das publikumsorientierte Sachbuch auf. Und anhand dieser Grundlage beschreibt Haller mit sprachlicher Brillanz, wie Kriege entstehen, wie es zu Terror und Amokläufen und auch zu Phänomenen wie Brandstiftung, Kleptomanie und Scheidungskriegen kommt. Dabei erklärt er eingängig die Psyche des gesunden wie auch die des nicht ganz gesunden Menschen, erläutert geschichtliche Zusammenhänge, greift philosophische Fragestellungen auf und gibt zu guter Letzt Tipps zum Umgang mit Kränkungen.
Düstere Demütigungen
Während die Lektüre anfangs überraschend leicht daherkommt, wechselt sie beim Thema „Demütigungen“ – gezielte, intendierte Kränkungen – in den düsteren Bereich. So düster, dass ich das Buch tatsächlich ein paar Wochen zur Seite legen musste, um das Gelesene zu verarbeiten. Zum Glück habe ich das Buch dann doch wieder in die Hand genommen, da Haller vor allem im letzten Drittel sehr lebensnahe Tipps zum Umgang mit Kränkungen im Alltag gibt. Denn diese sind, wie wir jetzt wissen, nie gänzlich zu vermeiden.
Fazit: Ein fantastisches Buch für alle, die sich für Psychologie im Allgemeinen und Beziehungen im Konkreten interessieren und gerne mal um 2,3 Ecken denken.
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