Wir müssen reden!

Manchmal ist Schweigen die beste Wahl: Wenn einem der Partner ganz verliebt tief in die Augen schaut oder man einen unbeschreiblich schönen Sonnenuntergang genießt zum Beispiel. Aber was macht es mit uns, wenn in Konfliktsituationen geschwiegen wird?  

„Reden ist Silber – Schweigen ist Gold“. Über Generationen hinweg bestimmte dieser Satz unsere Kommunikation. Schweigen galt als tugendhaft, edel und erstrebenswert. Reden dagegen war was für Schwache. Die eigenen Bedürfnisse zu äußern, Probleme aufzudecken, im Gespräch gemeinsam Lösungen zu suchen, war verpönt. „Reden wollen“ wird noch heute verächtlich dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, schweigende Verdrängung eher dem männlichen.

Schweigen ist Kränkung und Kränkungsreaktion in einem

Doch was hat es wirklich mit dem Schweigen und dem Gold auf sich? „Schweigen nimmt im Kontext mit Kränkungen eine absolute Sonderrolle ein“, erklärt der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller in seinem Buch „Die Macht der Kränkung“. Schweigen sei aktives Kränken und passive Kränkungsreaktion zugleich.

Gehen wir von folgender Situation aus: Eine Frau erklärt ihrem Partner (Geschlechter sind hier natürlich variabel austauschbar), dass sie sich von ihm vernachlässigt fühlt. Er fühlt sich dadurch angegriffen und gekränkt, weil er aus seiner Sicht schon viel mehr für sie tut, als er eigentlich will. Nun kann er auf unterschiedliche Weise reagieren. Er könnte zum Beispiel mit einer bewussten verbalen Kränkung zurückschlagen, er könnte sich zu einem späteren Zeitpunkt an ihr rächen, er könnte das Gespräch suchen, er könnte schweigend die Situation verlassen oder könnte sie umbringen (auch das passiert leider – Stichwort Ehrenmorde).

Schweigen ist höchst aggressiv

Dass Mord die gewalttätigste Reaktion auf Kränkung darstellt, braucht man nicht weiter zu erklären. Dass Schweigen jedoch eine der aggressivsten Reaktionen auf psychischer Ebene ist, scheint erstmal paradox. Tut der Schweigende doch eigentlich gar nichts. Denkt man zunächst. Zum Verständnis noch einmal ein Schwenk zu unserem Beispiel: Der besagte Mann fühlt sich zunächst selbst verletzt, angegriffen und gekränkt. Das muss nicht unbedingt an einer vorwurfsvollen Kommunikation der Frau liegen, sondern kann auch darin begründet sein, dass sie einen wunden Punkt bei ihm getroffen hat. Wenn er sich nun schweigend von ihr abwendet und jegliche Kommunikation unterbindet, tut er das erstmal aus Kränkung. Gleichzeitig dreht er damit aber das Machtgefälle um und wird selbst zum Kränkenden. Sein Gegenüber drängt er damit in die Opferrolle.

„Die Angeschwiegenen fühlen sich entwertet, weil man ihnen den Mund nicht gönnt“, erklärt Haller. „Sie sehen sich in einer hilflosen Position, da Schweigen nicht einmal eine Analyse, geschweige denn eine Lösung der Probleme zulässt.“ Schweigen verhindert den Abbau von Aggressionen auf beiden Seiten und fördert so negative Fantasien. Können Probleme nicht besprochen, Unklarheiten aufgeklärt und Lösungen gefunden werden, können sich Gedanken und Gefühle innerlich ins Unermessliche steigern und sich zu „unrealistischen, von Angst und Rachegefühlen durchdrungenden Vorstellungen“ entwickeln. „Das Schweigeopfer fühlt sich übergangen, entwertet und vor allem schuldig. Nicht wissend und nicht einmal wissend könnend, warum“, so Haller weiter.

Reden bringt Menschen zusammen

In der Psychotherapie werde Schweigen als Verdrängen und Ausweichen, im sozialen Leben als Desinteresse oder Inkompetenz gedeutet. Haller zufolge beklagen vor allem Soziologen, dass unsere Gesellschaft immer sprachloser werde. Ob in der Partnerschaft, im alltäglichen Miteinander, bei der Arbeit, aber auch auf politischer und religiöser Ebene: Es werde immer mehr geschwiegen. Das schaffe auf fatale Weise einen Boden für Kränkungen und Verletzungen.

So wie Schweigen Menschen auseinanderbringt, kann Reden sie zusammenbringen. Denn nur wer miteinander spricht, kann seine Gefühle und Gedanken äußern, kann eine Brücke zum anderen schlagen und gemeinsam Lösungen finden. Und selbst wenn nach einem Gespräch die Lösung darin besteht, getrennte Wege zu gehen, kann ein Gespräch dafür sorgen, dass sich alle Beteiligten gehört und gesehen fühlen und die Chance bekommen, Zusammenhänge zu verstehen. Daher sollten wir statt „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ lieber sagen:

 „Schatz, lass uns reden!“

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