So spannend ist Psychotherapie – Buchtipp: Die Liebe und ihr Henker
Was passiert, wenn ein Therapeut eine Affäre mit einer Patientin eingeht? Was wenn Vergewaltigung legal wäre? Irvin Yalom erzählt Geschichten aus der Psychotherapie, die verwundern, erschüttern und verstören.
Worte erzeugen Energie. Sie können eine positive Schwingung erzeugen, also ein wohliges Gefühl vermitteln, von Liebe, von Geborgenheit, von kindlicher Neugier. Sie können aber auch Schmerz auslösen, kränken und sogar zerstören. Sie können Hoffnung machen oder Hoffnung nehmen.
Welche Begriffe was im Hörenden auslösen, kann ganz unterschiedlich sein. Denn wir sind alle individuell geprägt – durch unsere Bildung, die Gesellschaft, Familie, Freunde, Erfahrungen und so weiter. Es gibt jedoch Worte, die in den meisten Menschen kein wohliges Gefühl hinterlassen. Dazu gehören zum Beispiel „Krieg“, „Abschied“, „Lüge“. Vor allem das Wort „Vergewaltigung“ kann sich wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen. Es kann Angst, Wut, Trauer oder Hass auslösen oder ein Gefühl von Schwere und Hoffnungslosigkeit hinterlassen.
An die Macht der Worte musste ich denken, als ich das Buch „Die Liebe und ihr Henker“ des bekannten Psychoanalytikers Irvin Yalom aufschlug. In dem Buch beschreibt er – etwas entfremdet – reale Geschichten aus seiner therapeutischen Arbeit. So erzählt er zum Beispiel von einer Patientin, die eine Affäre mit ihrem Therapeuten eingeht; von einer Frau, die Yalom aufgrund ihrer Fettleibigkeit mit seinen eigenen Gefühlen von Ekel in Kontakt bringt und von einem krebskranken Mann, der keinen Erfolg bei Frauen hat und sich deswegen wünscht, vor seinem Tod Frauen vergewaltigen zu können.
Die Perspektive wechseln
Als ich die Überschrift „Wenn Vergewaltigung legal wäre…“ las, zog sich in mir alles zu einer dunklen Kugel zusammen. Wie so oft im Leben liegt der Nährboden für meine Reaktion in mir. Ich bin mit den Werten Freiheit, Empathie und Gleichberechtigung aufgewachsen; habe wie die meisten Frauen, die ich kenne, selbst Grenzüberschreitungen erlebt und durfte zu Anfang meiner journalistischen Ausbildung einige sehr ergreifende Interviews mit misshandelten und missbrauchten Mädchen führen. Das alles hat mich geprägt.
Die Perspektive zu wechseln, hat mich Mühe gekostet. Doch genau darum geht es in diesem Buch – und in der Psychotherapie. Dinge verstehen, die eigentlich unverständlich sind. Eine Kunst, die Yalom beherrscht oder besser: trainiert. Denn immer wieder beschreibt er eigene Blockaden, Frustrationen, Antipathien. Gerade das macht das Buch so lebendig und lesenswert. Yalom ist kein Heiler und kein Heiliger. Er ist ein Experte auf seinem Gebiet, der sein Bestes tut, um Menschen zu helfen, was manchmal besser und manchmal schlechter gelingt.
Dabei spannt Yalom immer wieder den Bogen zum großen Ganzen, zu den wirklich wichtigen Fragen des Lebens. Im Kern gehe es doch meist um eines: Die Angst vor dem Tod und das damit einhergehende Gefühl, nicht gelebt zu haben. „Es ist nie zu spät, etwas zu ändern“, sagt Yalom zu einem Patienten. „Was auf keinen Fall geschehen darf, ist, dass Sie in fünf Jahren wieder etwas bereuen müssen, wenn Sie auf die Zeit zurückblicken, die jetzt vor Ihnen liegt.“
Fazit: „Die Liebe und ihr Henker“ öffnet dem Lesenden Türen, die in der Regel verschlossen bleiben. Wer sich für Psychotherapie interessiert, kann hier viel lernen, auch wenn das Buch so seine Längen hat und Yalom manchmal die Spannungskurve abhandenkommt.
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